Musikfolklore

“Musikfolklore”, Musikblätter des Anbruch, I/3–4 (December 1919), 102–106.

Collected edition: BÖI, 571–575; Essays, 159–163; BBI/4, 279–284.

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MUSIK FOLKLORE
Von Béla Bartók, Budapest
Die vergleichende Musikfolklore — einer der jüngsten Zweige der Musikwissenschaft einerseits, der Folklore anderseits — hatte kaum die allerersten Schritte ihres Weges zurückgelegt, als ihrer intensiveren Entwicklung der Ausbruch des Weltkrieges hemmend in den Weg trat.
Da nun die Hindernisse doch wohl allmählich schwinden werden und der internationale Verkehr nahe der Wiedereröffnung ist, scheint es zeitgemäß zu sein, sich darüber klar zu werden, auf welche Art und Weise diese Wissenschaft am besten gedeihen kann.
Bisher war die Leitung der zum Bereiche der Musikfolklore gehörenden Arbeiten in den Händen einzelner öffentlicher Institute, oder sie wurden gar von Fachmännern ganz auf eigene Faust fortgesetzt. Da die wohl jedem höchst wünschenswerte Einheitlichkeit des Verfahrens und der Ziele auf diese Weise nicht erreicht werden kann, scheint der erste erforderliche Schritt einerseits das Heranziehen der Privatforscher an die betreffenden Institute zu sein, anderseits aber ein Internationalisieren der Arbeiten durch Übereinkommen der einzelnen Institute betreffs Ziel, Art und Weise der forschenden Arbeit. Als Ausgangspunkte der mit der Musikfolklore verbundenen Arbeiten sind die Volkslieder-Sammlungen des XIX. Jahrhunderts anzusehen, deren Zustandekommen meistenteils patriotisch-chauvinistischen Gefühlen zuzuschreiben ist. Dieser Umstand erklärt die merkwürdige Tatsache, daß auf diesem Gebiete gerade die der politischen Selbständigkeit beraubten, unterdrückten Völker Osteuropas relativ Höheres leisteten, als die freien Völker Westeuropas. Es genüge der Hinweis auf die im Druck erschienenen Sammlungen der Polen (Kohlberg), Tschechen (Erben, Susil, Bartos), Slowaken (Slovenské spevy), Jugoslawen (Kuhac), Ukrainer (Filaret Kolessa) und der Finnen (Ilmari Krohn). Die letzten zwei ausgenommen bieten diese Arbeiten jedoch in musikalischer Hinsicht wenig Befriedigendes; die Melodien meistenteils durch Dilettanten aufgezeichnet, das systematische Ordnen des Materials (ebenso wie in den Volkslieder-Sammlungen Westeuropas) fast ausschließlich nach den Texten bewerkstelligt. Die Sammlung der Finnen bedeutet einen großen Fortschritt; das Material wurde mittels eines gewissen, von Ilmari Krohn zuerst angewandten Systems vom musikalischen Standpunkte aus geordnet.
Doch der wichtigste Schritt zu der Musikfolklore war die Einführung des Phonographen als unersetzbares Hilfswerkzeug des Sammlers. Eine jede Transkription sogar europäischer Melodien ist vom Folkloristen-Standpunkte aus unvollkommen, da nicht nur unsere Notenschrift, sondern auch die zur Ergänzung neu erfundenen diakritischen Zeichen die Art des Vortrages (Gleiten des Tones, Übergangsrhythmen, Rubato-Vortrag) unmöglich getreu veranschaulichen können. Davon zu schweigen daß es Melodiearten gibt, die — wie z. B. die Dumy der Ukrainer — in derart improvisierender Manier vorgetragen werden, daß bei jeder Wiederholung selbst die Umrisse der Melodie nicht ein und dieselben bleiben. In diesen Fällen wieder gibt eine Transkription ohne Phonograph in jedem Falle nur eine approximative, eigentlich niemals existierende Form der Melodie. Dieser Fortschritt tritt, abgesehen von einzelnen Veröffentlichungen kleineren Umfanges, in denen der Ukrainer zutage,
die mit Zuhilfenahme des Phonographen durch von Fachmännern systematisch ge’ sammeltes MelodienMaterial wissenschaftlich geordnet herausgegeben haben.
In Ungarn kündigte sich seit anderthalb Jahrzehnten ein ähnliches Bestreben an, mit dem Unterschied, daß es sich von dem exklusiv’nationalen Standpunkte lossagte und das vergleichende Studium des Melodien – Materials sämtlicher Ungar-ländischen und angrenzenden Völker zum Ziele sich setzte. Trotz der ungünstigen Verhältnisse wurden etwa 10.000 ungarische, slowakische und rumänische, weit weniger ukrainische (ruthenische), serbische, bulgarische und Zigeuner’Melodien teilweise phonographiert, teilweise — besonders die einfacheren — nach dem Gehör notiert, das gewonnene Material jeder einzelnen Nationalität für sich geordnet, miteinander verglichen und somit auf die vergleichende Musikfolklore übergegangen. Die Resultase dieser Arbeiten konnten — abgesehen von einigen kürzeren Aufsätzen — bis jetzt im Drucke nicht erscheinen.
Institute, die zurzeit zur Aufbewahrung und Behandlung einer größeren Zahl Phonogramme oder Grammophonplatten folkloristischen Inhaltes eingerichtet sind, sind unseres Wissens folgende:

  1. Das musik’psychologische Institut der Universität zu Berlin unter Leitung E. v. Hornbostels. Es umfaßt eine größere Zahl Phonogramme namentlich exotischer Länder, die vor allem durch Kupfernegative vervielfältigt, dann in Notenschrift umgesetzt werden. Die Schwingungen der Tonleiterstufen der einzelnen Melodien werden durch einen entsprechenden Apparat festgestellt. Ob ein weiteres Behandeln des Materials (Ordnen nach verschiedenen Standpunkten etc.) besteht oder nicht, ist
    uns nicht bekannt.
  2. Das Phonogramm-Archiv zu Wien.
  3. Die Ethnographische Abteilung des ungarischen Nationalmuseums zu Budapest, in welcher sich 2157 Phonogramme (1132 mit ungarischen, 794 mit rumänischen, 161 mit slowakischen, 38 mit ruthenischen, 12 mit jugoslawischen, 3 mit bulgarischen, 11 mit tscheremissischen Aufnahmen) befinden. Ein Teil der Phonogramme, 754 an der Zahl, wurde von Nichtmusikern eingeliefert. Die Originalaufnahmen werden leider nicht reproduziert, sind also einer ständigen, sich bis zur Unbrauchbarkeit der Aufnahmen steigernder Abnützung ausgesetzt.
    Außerdem sind derzeit in Budapest über 1000 Phonogramme in Privatbesitz. Die Resultate der oben erwähnten vergleichenden musikfolkloristischen Studien sind ebenfalls in Privathänden.
    Die ersten erforderlichen Schritte wären nun: 1. daß die genannten und eventuell noch außerdem existierenden Institute mit ähnlicher Einrichtung miteinander in Fühlung treten, sich zu einem Arbeitsplan einigen sollen und ständig in Kontakt bleiben; 2. es sollte ihrerseits an ethnographische oder ähnliche Museen anderer Länder mit einem gemeinsamen Aufruf herangetreten werden, um letztere zu bewegen, sich ihrer Arbeit durch Schaffung einer Phonogramm-Sammlung beizugesellen; 3. die Privatbesitzer, respektive Sammler von Phonogrammen sollten aufgefordert werden, die Walzen in das eine oder das andere der betreffenden Institute einzusenden oder dort zu deponieren und ihre Arbeit zur Bereicherung dieser öffentlichen Sammlungen fortzusetzen.
    Ein idealer EinrichtungS- und Arbeitsplan wäre unseres Ermessens etwa folgender
    Das gemeinsame Ziel wäre: die Erforschung der durch mündliche Tradition fortgepflanzten Musik (einschließlich Volksgebräuche, die mit Musik verbunden
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    sind) sämtlicher Völker. Hiebei sei bemerkt, daß in Europa wohl nur Volksmusik im engsten Sinne des Wortes (d. h. Bauernmusik), in exotischen Ländern dagegen auch städtische Kunstmusik, die ja dort ebenfalls nur auf diese Weise von Generation zu Generation vererbt wird, in Betracht kommen kann. Die Arbeit des Sammelns sollte ausschließlich durch Fachmänner, und zwar an der Heimatstelle der Melodien durch systematisches Erforschen des Materials durchgeführt werden. (Ein „Gelegenheits“-Sammeln bei zufälligem Eintreffen fremder Volkssänger sollte nur ganz ausnahmsweise vorgenommen werden.) Höchst wünschenswert wäre hiebei das ständige Mitarbeiten eines Musikfolkloristen und eines Sprachforschers. Der Musiker muß zwar unbedingt einige Kenntnis der Sprache des zu erforschenden Gebietes mitbringen, sonst könnte er gewisse Beziehungen zwischen Wort und Musik nicht ergründen; doch zu einer tadellosen phonetischen Niederschrift des Textes selbst in der Muttersprache ist eine linguistische Schulung nötig, die bei einem Musiker kaum je anzutreffen sein wird. Falls jedoch auf einen der zwei Mitarbeiter verzichtet werden müßte, soll dies jedenfalls der Sprachforscher sein. Denn das von einem Nichtmusiker mittels Phonographen gesammelte Material ist in jedem Falle höchst mangelhaft. Bei den meisten exotischen Völkern, wie z. B. bei den Arabern, ist die äußerst charakteristische, verschiedene Begleitung der Melodie auf Schlaginstrumenten ein höchst wichtiger Bestandteil ihrer Musik; die Art und Weise des Anschlages, ferner der Wechsel der Schläge zwischen beiden Händen ist aus dem Phonogramm unerkennbar: der manchmal ziemlich komplizierte Rhythmus muß an Ort und Stelle notiert werden. Es kommt häufig vor, daß der Sänger die Melodie aus verschiedenen Gründen fehlerhaft, verstümmelt, vom üblichen Tempo abweichend dem Phonographen vorsingt u. s. w. u. s. w.; all dieses kann nur durch an Ort und Stelle vorgenommene Aufzeichnungen berichtigt werden; abgesehen davon, daß ein systematisches, womöglich gründliches Erforschen des Materials nur auf Grund der Ergebnisse der vorangegangenen Forschung ins Werk gesetzt, respektive fortgesetzt werden kann, wie z. B. das Auffinden von ergänzenden Varianten, das genauere Feststellen gewisser Schablonen im Vortrage u. s. w. Diese Leistung kann nur von einem Musiker erhofft werden. Die Fehler der phonetischen Niederschrift der Texte können dagegen bis zu einer gewissen Grenze mit Hilfe guter Phonogramme durch einen Sprachforscher auch nachträglich berichtigt werden.
    Zur Ausrüstung eines Phonogrammarchivs oder ähnlicher Institute wären einst weilen folgende Instrumente vorzuschlagen:
    Ein Edison-Standard-Apparat und ein Pathéfon, beides sowohl zur Aufnahme als auch Reproduktion; eventuell ein Kinematograph zur Aufnahme der Tänze oder wenigstens ein Photograph-Apparat zur Aufnahme der Sänger, der Instrumente u. s. w.
    Es steht wohl außer Zweifel, daß eine Sprechmaschine mit Platten (Grammophon, Pathéfon etc.) bedeutend bessere Aufnahmen liefert als eine mit Walzen (Phonograph, Graphophon etc.). Es scheint, daß unter den ersteren der Vorzug dem Pathéfon zu geben wäre. Dieses besitzt nämlich — abweichend von den Grammophon-Apparaten — einen „Reproducer“ mit Steinnadel zum sofortigen Abspielen der Wachsplatte. Der unvergleichliche Vorzug dieser Eigenschaft bedarf wohl keiner eingehenderen Erklärung. Die Anwendung auch eines Phonographen wäre nicht aufzugeben, da man oft gezwungen ist, an solchen Orten (z. B. in ent-
    legenen Bergdörfern, in winzigen Bauernhütten fast ohne jede Möbeleinrichtung) zu sammeln, wo man infolge Mangels an geeigneten Wagen und Raum zur Aufstellung des etwa 100 kg schweren Apparates nur mit einem Phonographen arbeiten kann. Da jedoch die Phonogramme auf mechanischem Wege auf Pathéfon-Platten übertragen werden können — ein weiterer Vorzug des Pathéfon — bildet dieser Umstand kein besonderes Hindernis für die Einheitlichkeit der Einrichtung.
    Es wäre nun folgendes Verfahren zu verfolgen:
  4. Die bereits eingelaufenen Phonogramme auf Pathéfon-Metallnegativplatten zu übertragen.
  5. Nach jeder Forschungsreise die Metallnegativplatten nach den Originalaufnahmen (sowohl Platten als Walzen) sofort herzustellen.
  6. Die Umsetzung in Notenschrift bereits nach den Kopien vorzunehmen.
  7. Sämtliche miteinander in Kontakt stehenden Institute sollten ein Tausch-System adoptieren: die jährliche Bereicherung ihres Materials sollte in Kopien sowohl der Aufnahmen als auch ihrer Transkription gegenseitig ausgetauscht werden.
  8. Die Transkription der auf diese Art — sowohl durch Tausch als auch durch eigene Sammlung erworbenen — jeder einzelnen Melodie soll in jedem der Phonogramm-Archive in vier Exemplaren vorhanden sein. Ein Exemplar soll der Katalogsnummer gemäß eingereiht, das zweite der Melodie gemäß nach gewissen wissenschaftlichen Systemen, das dritte hinsichtlich der Texte, das vierte hinsichtlich des geographischen Ursprunges geordnet werden.
    Zur Erlangung eines einheitlichen NotierungS- und GruppierungS-Systems wären wohl längere gemeinsame Erwägungen seitens der Leiter der betreffenden Institute nötig. (Betreffs ersteren vgl.: Otto Abraham und E. v. Hornbostel, Vorschläge für die Transkription exotischer Melodien; Sammelbände der Internationalen Musikgesellschaft, XI, 1.)
    Ein weiteres Arbeitsfeld wäre das systematische Ordnen des bereits in Druck erschienenen Materials. Die Art und Weise der Inangriffnahme dieser ungeheuren Arbeit ist selbstverständlich wohl zu erwägen; ihre Ausführung ist jedoch unerläßlich, da ja auch ältere, vom wissenschaftlichen Standpunkte aus zwar auch anfechtbares Material enthaltende Sammlungen vieles der vergleichenden Musikfolklore Brauchbare teilweise Unersetzbare enthalten.
    Infolge der allgemeinen wirtschaftlichen Krise ist kaum zu erwarten, daß den oben vorgelegten idealen Ansprüchen in absehbarer Zeit vollkommen Rechnung getragen werden kann. Im besten Falle ist einstweilen das Akzeptieren bescheidener Vorschläge zu erhoffen: z. B. eine Beschränkung auf die ausschließliche Verwendung des Phonographen.
    Im Jahre 1914 war der Ladenpreis einer Edison-Blankwalze 1*50 Frcs.; die Reisekosten betrugen in Osteuropa durchschnittlich 3 Frcs. pro Walze. Die Herstellung einer Kupfernegativwalze bedurfte etwa 4’50 Frcs.; die nach dem Negativ gegossene Kopie zirka 1 Frc. Somit beliefen sich die Rohkosten einer Walze auf 10 Frcs. Da nun eine Arbeitskraft jährlich etwa 600 Walzen samt ihren Transkriptionen liefern kann und man zum Lebensunterhalt einer Person jährlich etwa 4200 Frcs. berechnen kann, wären die auf eine Walze entfallenden Gesamtkosten auf 17 Frcs. zu schätzen. Im äußersten Fall könnte sogar die sofortige Herstellung der Negative und Kopien einstweilen ausgeschaltet werden. Im Falle ein einziges Institut die jährlichen Beschaffungskosten der 600 Walzen — 10.200 Frcs., oder ohne Negativherstellung
    6950 Frcs. — nicht erschwingen kann, wäre bei der obengeschilderten gemeinsamen Aktion mehrerer Institute das Problem auch derart zu lösen, daß die Beschaffung dieses jährlichen Materials durch mehrere Institute, je nach deren Leistungsfähigkeit verteilt, ermöglicht wird. Die Wahl der Sammlungsstätten würde sich einerseits nach der Sprachenbereitschaft der angestellten Fachmusiker richten, anderseits nach der Erwägung dessen, an welchen Stätten die autochthone Musikkultur durch fremden Einfluß am meisten gefährdet ist.
    Dieses ist jedenfalls der allerbescheidenste Rahmen zur Ermöglichung eines nur einigermaßen befriedigenden Weiterarbeitens. Sie gewährt eigentlich die Verfolgung nur eines (allerdings des wichtigsten) der oben geschilderten Ziele: das eifrige Sammeln des Materials. Eben dieses dürfte nach der Hemmung der letzten Jahre keinen weiteren Aufschub erleiden. Die selteneren Instrumente sterben aus; es schwinden von Jahr zu Jahr gewisse Eigentümlichkeiten jedes Volksgesanges; die alten Stilarten werden durch neue, in Entstehung begriffene, verdrängt. Es sei hier namentlich darauf hingewiesen, daß die Völker Osteuropas höchst wertvolles, größtenteils unerforschtes Material bergen, dessen altertümlicher Charakter infolge des Eindringens westeuropäischer Kultur einer Alteration besonders ausgesetzt ist. Jedes Jahr Säumnis bedeutet einen unersetzbaren Verlust an Kulturwerten.
    Die erforschten Stilarten einer mehr oder minder exotischen Volksmusik scheinen ein unvergleichlich höheres Interesse bei schaffenden Musikern zu erwecken, als z. B. ethnographische Sammlungen bei bildenden Künstlern oder Volkstexte bei Schriftstellern. So daß es sich hier nicht nur um die Erreichung rein Wissenschaftlicher Ergebnisse handelt, sondern auch um solche, die auf schaffende Musiker anregend wirken.
    Wir wären sehr dankbar, wenn unsere Vorschläge in maßgebenden Kreisen einen Widerhall fänden, und bitten die Fachmusiker um eventuelle Gegenvorschläge.