„Der Einfluss der Volksmusik auf die heutige Kunstmusik”, Melos, I/17 (1920. október 16.), 384–386.
Gyűjteményes kiadás: BÖI, 665–667.; Essays, 316–319.; DocB/5, 48–51. (az autográf fogalmazvány kiadása)
Későbbi, rövidített kiadás: Der Einfluss der Volksmusik auf die heutige Kunstmusik
Forrás: ÖNB
INHALT
Dr. ADOLF ABER…………………………….Wohin des Wegs?
BÉLA BARTÓK …………………………………Der Einfluß der Volksmusik auf die heutige
Kunstmusik
Dr. HERM. STEPHANI ………………..Partituren
AUGUST LEOPOLD SASS………………..Deutsche Schule im Geigenspiel
HANS HEINZ STUCKENSCHMIDT . Neue Lieder
Dr. HEINRICH KNÖDT-Wien . Zur Psychologie des Komponisten
Prof. Dr. WILHELM ALTMANN Bedeutende Neuerscheinungen und Manuskripte
NOTENBEILAGE: Eduard Erdmann: Zweiter Satz aus der Sonate für Violine allein
„MELOS“
Der Einfluß der Volksmusik auf die heutige
Kunstmusik
Von Béla Bartók.
„Volksmusik“ ist im allgemeinen ein ziemlich weiter Begriff, den ich hier mit folgendem Versuch einer Definition einschränken möchte: Volksmusik ist die Musik einer von städtischer Kultur am wenigsten beeinflußten Bevölkerungsschicht, Musik in mehr oder minder großer, sowohl zeitlicher als auch räumlicher Ausdehnung, die als spontane Befriedigung des Musik- Triebes fortlebt, oder irgendwann fortgelebt hat.
Dieser Definition gemäß wäre Träger und Fortpflanzer der Volksmusik die Bauernklasse, als die am wenigsten von städtischer Kultur beeinflußte. Ein Nichtbeeinflußtsein währt beim Bauernvolke solange als es das zu seinem körperlichen und geistigen Leben notwendige Material — in traditionellen Formen — selbst produziert. Ein derartiger Urzustand ist heutzutage natürlich wohl nur bei Urvölkern zu finden.
Eine ganze Reihe der Entwicklungsstufen führen zu dem Zustande der Bauernklassen des heutigen Ost-Europa, die — wenigstens in ihren Kunstprodukten — zwar seit längerer oder kürzerer Zeit einem mehr oder minder großen städtischen, namentlich west-europäischen Einflusse ausgesetzt find, jedoch nach Verlauf einer gewissen Leitperiode die Elemente des fremden Einflusses derart ihrem Wesen assimilieren, daß als Endresultat eine vom Muster abweichende Kunst, die Volkskunst, oder auf musikalischem Gebiete ein Volksmusikstil entsteht. In dem Letztgesagten ist die in der obigen Definition erwähnte Bedingung der zeitlichen und örtlichen Ausdehnung enthalten. Denn die Assimilierung fremder Elemente kann nur dadurch entstehen, daß diese Elemente von einer Menge, und nicht von einzelnen Personen von Geschlecht zu Geschlecht übertragen werden; während dieser spontanen Übertragung erfahren die Elemente gewisse Veränderungen, verschmelzen ineinander.
Die Frage des Ursprunges der Volksmusik ist bei der Definition — als irrelevant— nicht in Betracht genommen.
Es ist anzunehmen, daß jede heutzutage bekannte europäische Volksmusik durch den Einfluß Irgendeiner Kunstmusik, besser gesagt, volkstümlicher Kunstmusik entstanden ist. Bei den neu entstandenen (oder in unseren Tagen entstehenden) Stilarten ist dies so ziemlich beweisbar; in den älteren ist es vorderhand nur in einzelnen Fällen möglich. Eine der wichtigsten Aufgaben der vergleichenden Musikfolklore ist eben der Versuch den Ursprung der einzelnen Volksmusik- stilarten der Völker zu bestimmen, was auf diesem Gebiete mangels an verläßlichem Material eine ungleich schwierigere Aufgabe ist, als z. B. eine ähnliche Forschungsarbeit auf dem Gebiete der vergleichenden Sprachforschung.
Aus dem bisher Gesagtem geht hervor, daß sogar die engere Begrenzung des Wortes „Volksmusik“ noch immer ziemlich viele Abstufungen von der weniger volkstümlichen, unreineren zur reineren Volksmusik enthält; in ersterer treten die aus der Kunstmusik stammenden Elemente noch ziemlich erkennbar hervor, in der letzteren sind sie derart assimiliert, daß ein durchaus neuer Stil entsteht. In die Beschreibung weiterer äußerlicher Eigentümlichkeiten dieser letzteren Art von Volksmusik wollen wir uns hier nicht einlassen. Die innerlichen musikalischen Eigenheiten derselben, jene wesentlichen stilistischen Merkmale, durch die sie sich von der volkstümlichen Kunst- musik unterscheidet ausführlich zu beschreiben, wäre ebenfalls eine einstweilen viel zu schwierige Aufgabe. Es sei nur die sowohl formelle als auch inhaltliche absolute Vollendetheit, die man in jeder einzelnen Melodie dieser Klasse antrifft, erwähnt; die Produkte irgend einer volkstümlichen Kunstmusik entbehren in den meisten Fällen dieser Abgeklärtheit.
Der allgemeinen Meinung nach hat die Volksmusik erst im XIX. Jahrhundert namentlich auf die Kunst Chopin’s, Liszt’s, später auf die der slawischen Komponisten einen bedeutenderen Einfluß auszuüben begonnen. Dies ist insofern nicht ganz richtig, als dieser Einfluß nicht so sehr der Volksmusik, sondern vielmehr der volkstümlichen Kunstmusik zuzuschreiben ist. Die Autoren der volkstümlichen Kunstmusik sind eigentlich heute von einer gewissen Erudition, die in ihren Werken (meistens einzelne Melodien ohne Begleitung) gewisse Eigenheiten aus dem Volksmusikstil ihrer Heimat mit Schablonen der höheren Kunstmusik verschmelzen. Die Anlehnung an die Volksmusik verleiht ihren Werken eine gewisse Frische und Exotik (ich spreche in erster Linie von den derartigen Produkten Osteuropas), die Anwendung der Kunstmusik-Schablonen aber auch viel Banales: der Kunstwert derartiger Melodien ist mit dem der reinsten Volksmelodien nicht zu vergleichen. Sie entbehren meistenteils der für die reine Volksmusik so sehr charakteristisch absoluten Vollendetheit.
Dem Einflüsse dieser volkstümlichen Kunstmusik ist es vielleicht zuzuschreiben, daß die höhere Kunstmusik des XIX. Jahrhundertes eine gefährliche Neigung zum Banalen aufweist.
Die reine Volksmusik fängt erst Ende des XIX. und Anfang des XX. Jahrhunderts an einen überwältigenden Einfluß auf unsere höhere Kunstmusik auszuüben. Als erste Beispiele haben wir die Werke Debussy’s und Ravel’s zu betrachten, auf welche die Volksmusik Osteuropa’s und Ostasien’s ihren bleibenden, und gewissermaßen richtunggebenden Einfluß ausübte. Noch mehr ausschlaggebend ist dieser Vorgang in den Werken des Russen Strawinsky und des Ungarn Kodály: das Oeuvre beider Musiker wächst derart aus der reinen Volksmusik ihrer Heimat heraus, daß es beinahe als eine Apotheose derselben gelten kann, (wie z. B. Strawinsky’s Sacre du Printemps) Bemerkt sei: es handelt sich hier nicht um die bloße Anwendung von Volksmelodien oder um die Umpflanzung einzelner Wendungen derselben; es offenbart sich in diesen Werken eine tiefinnere Erfassung des mit Worten schwer zu schildernden Geistes der betreffenden Volksmusik. Demzufolge beschränkt sich auch dieser Einfluß nicht auf einzelne Werke; die Ergebnisse des ganzen Schaffens der betreffenden Komponisten sind von diesem Geiste durchtränkt.
Wie verträgt sich nun dieser Einfluß der durchaus tonalen Volksmusik mit der atonalen Richtung? Es genüge der Hinweis auf ein besonders charakteristisches Beispiel: die Pribautki von Strawinsky. Die Singstimme derselben besteht aus Motiven, welche — wenn auch vielleicht nicht aus der russischen Volksmusik entlehnt — durchwegs Nachbildungen von russischen Volksmusik- motiven sind. Die charakteristische Kurzatmigkeit dieser Motive, die sämtlich, allein betrachtet, durchaus tonal sind, ermöglicht eine Art instrumentaler Begleitung, die aus einer Reihe unterlegten, für die Stimmung der Motive höchst charakteristischen, mehr oder minder atonalen Tonflecken besteht. Die Gesamtwirkung steht jedenfalls dem Atonalen viel näher als dem Tonalen. (Siehe das Beispiel am Schluß des Artikels.)
Eben dieses, den Volksmotiven entnommene hartnäckige Festhalten an einem Ton, oder an einer Tongruppe scheint eine besonders wertvolle Stütze zu sein: sie bietet für die entstehenden Werke dieser Übergangsperiode ein festes Gerippe und bewahrt vor einem planlofen Herumirren.
Zwei Parallellen wären noch zu erwähnen: die reine Volksmusik kann zur Beeinflussung der höheren Kunstmusik ebenso als Naturerscheinung in Betracht kommen, wie die mit dem Auge wahrnehmbaren Eigenschaften der Körper für die bildende Kunst, oder wie die Lebenserscheinungen für den Dichter. Dieser Einfluß gestaltet sich für den Musiker am wirksamsten, wenn er die Volksmusik nicht aus toten Sammlungen kennen lernt, welche so wie so ihre feineren Nuancen und das pulsierende Leben derselben infolge das Fehlen genügender diatonischer Zeichen nicht wiederzugeben vermögen, sondern wenn er sie rein in der Gestalt kennen lernt, wie sie in ungezügelter Kraft beim niederen Volke lebt. Wenn er sich dem Eindrücke dieser lebenden Volksmusik und all’ deren Umstände, welche die Vorbedingungen dieses Lebens bedeuten, hingibt, und die Wirkung dieser Eindrücke in seinen Werken wiederspiegeln läßt, dann kann man von ihm sagen, er hat ein Stück Leben darin festgehalten.