“Über die magyarische Musik”, Der Merker, VII/21 (1 November 1916), 757–758.
Collected edition: BÖI, 609–610; Essays, 301–303; BBI/1, 99–101.
Further version: A magyar zenéről
Source: BBA
VII. JAHRGANG 1. NOVEMBER 1916 heft nr. 21
DER MERKER
UEBER DIE MAGYARISCHE MUSIK.
VON
BELA BARTÓK.
Der natürlichen Reihenfolge nach kommt die Praxis vor der Theorie. In der
Frage der magyarischen Nationalmusik aber sehen wir eine umgekehrte
Reihenfolge, denn es erschienen schon vor einigen Jahren wissenschaft
liche Werke, welche die Besonderheiten der magyarischen Musik behandelten,
etwas bestimmen wollten, wovon damals noch gar keine Spur war.
Denn wir hatten keine wertvolle und zugleich von allen anderen abweichende,
spezifisch magyarische Kunstmusik. Was Bihari, Lavotta und einige eingewanderte
Fremdlinge wie Csermák, Rózsavölgyi, Pecsenzánszki und andere — die durchwegs
mehr oder weniger Musikdilettanten waren — unter dem Einfluß der Zigeunermusik
zusammenschrieben, und woran ein Mensch von gutem Geschmack keine Freude
finden kann, darf nicht die Grundlage solcher Betrachtungen bilden. Ueber diese
dilettantischen Arbeiten können nur dilettantische „Musikgelehrte“ ernste Abhandlungen
schreiben. Und außerdem ist dies alles nicht einmal magyarische Nationalmusik,
nicht magyarischen sondern zigeunerischen Ursprungs. Was diese Musik
hauptsächlich charakterisiert, sind die Melodientorsi eines aus der Fremde eingewanderten
Volkes — der Zigeuner.
Aber auch die Bemühungen unserer ernsten Musiker blieben fruchtlos, denn
ein Teil von ihnen ahmte fremde Stile sklavisch nach, wogegen andere — darunter
auch Erkel — die Aufgabe so lösen wollten, daß sie zwischen italienische
Musikstücke ein oder zwei Zigeunerweisen oder Csárdáse einfügten. Aus der
Vermengung so heterogener Elemente entstand kein magyarischer Stil, sondern
konglomerate Stillosigkeit.
Wenn wir bisher auch keine magyarische Kunstmusik hatten, hatten und haben
wir eine wertvolle spezifisch magyarische Volksmusik, die jedoch unseren sich sonst
für alle Nationalspezialitäten laut begeisterten Kompatrioten nicht bekannt ist, von
ihnen aber auch weder gesucht noch geliebt wird. Sie kennen hievon bloß jene
ein- oder zweihundert Volkslieder, welche die Zigeunerprimase vom Volke zu
übernehmen geruhten und dann mit ihrer orientalischen Phantasie, in unglaublicher
Weise und fast zur Unkenntlichkeit verzerrt, den Ohren der magyarischen Gentrys
vorspielten. Allen, die nicht wissen, welch’ riesig großer Unterschied zwischen
magyarischer und zigeunerischer Spielweise besteht, empfehle ich, das Musizieren eines
ungarischen Bauernmusikers, sei es auf dem Dudelsack oder der Bockflöte, anzuhören.
Unter den von den Zigeunern übernommenen Liedern befinden sich auch
einige von fremden — den benachbarten slavischen— Völkern überlieferte Weisen,
die zufällig in die ungarische Volksmusik gerieten. Auch diesen wird die pflichtgemäße
nationale Begeisterung entgegengebracht, den vor kurzem aufgefunden,
sehr wertvollen urmagyarischen, siebenbürgischen Weisen jedoch steht alles fremd
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und verständnislos gegenüber, denn Aehnliches wurde nie gehört. Diese e c h t- magyarische Volksmusik wird weder geliebt noch verstanden.
Und unsere „Musikgelehrten“ sind nicht minder oberflächlich : sie nehmen jedes magyarisch gesungene Lied für ein magyarisches Volkslied, und so findet man oftmals in ihren Werken, wie sie mit lächerlich anmutendem Eifer beweisen wollen, wie urmagyarisch die eine oder die andere doch ganz fremde Weise ist. Dies kommt daher, weil auch sie glauben, sie hätten dem Studium der magyarischen Volksmusik Genüge geleistet, wenn sie sich in ein Budapester Kaffeehaus setzen und Zigeunermusik anhören.
Sie gehen sogar in ihrem Glauben noch weiter, meinen nämlich, daß man durch die geeignete Anwendung einiger im vorhinein aufgestellter Regeln neuartige und originell-magyarische Musik produzieren könne. Ich lese mit himmlischem Frohsinn, wenn ein solcher Musikgelehrter, der nie einen Ton Musik komponierte, den magyarischen Musikern die von ihm aufgestellten und j,seiner“ Theorie entsprechenden „magyarischen Rythmusgleichungen“ als zu befolgendes Beispiel empfiehlt.
Diese gelehrten Herren sollten warten, bis sich eine der magyarischen Erde entsprossene Musikkunst zur Gänze ausbildet. Und dies kann geschehen, wenn einige ungarische Musikdichter kommen, die — obgleich ein jeder von ihnen eine starke, selbständige Individualität ist — ihren Werken auch solche Besonderheiten geben, die bei allen gemeinsam, aber bei der Musik keiner einzigen anderen Nation auffindbar sind, und deshalb als die allgemeinen Charakteristika der magyarischen Kunstmusik angesprochen werden müssen. Es ist möglich, daß diese gemeinsame Eigenart aus dem wechselseitigen Aufeinanderwirken der Künstler oder aus dem Einfluß der echten magyarischen Volksmusik entsteht. Es ist auch nur natürlich, daß dieser Stil den Stempel des XX. Jahrhundertes tragen wird und die Harthörigen werden dann auf Strauß, Reger, Debussy hinweisen, weil sie für die feineren Schattierungen kein Gehör haben.
In den allerletzten Jahren kann man schon die Spuren solcher Anfänge feststellen. Und es ist sehr unterhaltend, daß der größte Teil unserer Sachverständigen und Kritiker beim Hören magyarischer Werke, wie es solche noch nie gab, alle Namen modischer westeuropäischer Größen aufzählen. Natürlich, jene geben Ungewohntes und diese geben Ungewohntes, das Ungewohnte aber ist stets gleich „schädlich“. Ja, ich wage sogar die Behauptung, daß den ungarischen Kritikern eine auf der gewohnten westeuropäischen Chromatik, auf dem gewohnten Dur-Moll aufgebaute Drollerie nähersteht, als die asiatische „Schrecklichkeit“ einer einfachen urszèkler Weise. Nur nichts Neues ! Nur immer die gewohnte Schablone !
Was bei uns in den allerletzten Jahren an Neuem und Magyarischem komponiert wurde, ist bloß ein Anfang, genügt noch immer nicht dazu, um allgemeine Eigenarten, gemeinsame Bestrebungen u. s. w. abstrahieren zu können.
Mit einem Wort, die Zeit der bereits vor Jahren mit großer prophetischer Inspiration geschriebenen magyarischen Musiktheorien — ist noch immer nicht gekommen.
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