“Der Einfluss der Volksmusik auf die heutige Kunstmusik”, Melos, IX/2 (February 1930), 66–67.
Collected edition: BÖI, 665–667.; Essays, 316–319.; DocB/5, 48–51. (edition of the autograph draft)
Original edition: Der Einfluss der Volksmusik auf die heutige Kunstmusik
Source: BBA
Bela Bartók (Budapest)
Aus, DER EINFLUSS DER VOLKSMUSIK AUF DIE HEUTIGE KUNSTMUSIK Erschienen Oktober 1920
„Volksmusik” ist im allgemeinen ein ziemlich weiter Begriff, den ich hier mit folgendem Versuch einer Definition einschränken möchte: Volksmusik ist die Musik einer von städtischer Kultur am wenigsten beeinflußten Bevölkerungsschicht. Musik in mehr oder minder großer, sowohl zeitlicher als auch räumlicher Ausdehnung, die als spontane Befriedigung des Musiktriebes fortlebt, oder irgendwann
fortgelebt hat.
Es ist anzunehmen, daß jede heutzutage bekannte europäische Volksmusik durch den Einfluß irgendeiner Kunstmusik, besser gesagt, Volkstümlicher Kunstmusik entstanden ist. Bei den neu entstandenen ( oder in unseren Tagen entstehenden) Stilarten ist dies so ziemlich beweisbar; in den älteren ist es Vorderhand nur in einzelnen Fällen möglich.
Eine der wichtigsten Aufgaben der vergleichenden Musikfolklore ist eben der Versuch, den Ursprung der einzelnen Volksmusikstilarten der Völker zu bestimmen, was auf diesem Gebiete mangels an verläßlichem Material eine ungleich schwierigere Aufgabe ist, als z. B. eine ähnliche Forschungsarbeit auf dem Gebiete der vergleichenden Sprachforschung.
Der allgemeinen Meinung nach hat die Volksmusik erst im XIX. Jahrhundert namentlich auf die Kunst Chopin’s, Liszt’s, später auf die der slawischen Komponisten einen bedeutenderen Einfluß auszuüben begonnen. Dies ist insofern nicht ganz richtig, als dieser Einfluß nicht so sehr der Volksmusik, sondern vielmehr der Volkstümlichen Kunstmusik zuzuschreiben ist.
Die reine Volksmusik fängt erst Ende des XIX. und Anfang des XX. Jahrhunderts an, einen überwältigen Einfluß auf unsere höhere Kunstmusik auszuüben. Als erste Beispiele haben wir die Werke Debussy’s und Ravel’s zu betrachten, auf welche die Volksmusik Osteuropas und Ostasiens ihren bleibenden, und gewissermaßen richtunggebenden Einfluß ausübte. Noch mehr ausschlaggebend ist dieser Vorgang in den Werken des Russen Strawinsky und des Ungarn Kodaly: das Oeuvre beider Musiker wächst derart aus der reinen Volksmusik ihrer Heimat heraus, daß es beinahe als eine Apotheose derselben gelten kann (wie z. B. Strawinsky’s Sacre du Printemps). Bemerkt sei: es handelt sich hier nicht um die bloße Anwendung von Volksmelodien oder um die Umpflanzung einzelner Wendungen derselben: es offenbart sich in diesen Werken eine tiefinnere Erfassung des mit Worten schwer zu schildernden Geistes der betreffenden
Volksmusik. Demzufolge beschränkt sich auch dieser Einfluß nicht auf einzelne Werke; die Ergebnisse des ganzen Schaffens der betreffenden Komponisten sind von diesem Geiste durchtränkt.
Wie verträgt sich nun dieser Einfluß der durchaus tonalen Volksmusik mit der atonalen Richtung? Es genüge der Hinweis auf ein besonders charakteristisches Beispiel: die Pribaoutki von Strawinsky. Die Singstimme derselben besteht aus Motiven, welche wenn auch vielleicht nicht aus der russischen Volksmusik entlehnt – durchweg Nachbildungen von russischen Volksmusikmotiven sind. Die charakteristische Kurzatmigkeit dieser Motive, die sämtlich, allein betrachtet, durchaus tonal sind, ermöglicht eine Art instrumentaler Begleitung, die aus einer Reihe von unterlegten, für die Stimmung
der Motive höchst charakteristischen, mehr oder minder atonalen Tonflecken besteht. Die Gesamtwirkung steht jedenfalls dem Atonalen viel näher als dem Tonalen. Eben dieses, den Volksmotiven entnommene hartnäckige Festhalten an einem Ton oder an einer Tongruppe scheint eine besonders wertvolle Stütze zu sein: sie bietet für die entstehenden Werke dieser Ubergangsperiode ein festes Gerippe und bewahrt vor einem planlosen Herumirren. Zwei Parallelen wären noch zu erwähnen: die reine Volksmusik kann zur Beeinflussung der höheren Kunstmusik ebenso als Naturerscheinung in Betracht kommen, wie die mit dem Auge wahrnehmbaren Eigenschaften der Körper für die bildende Kunst, oder wie die Lebenserscheinungen für den Dichter. Dieser Einfluß gestaltet sich für den Musiker am wirksamsten, wenn er die Volksmusik nicht aus toten Sammlungen kennen lernt, welche so wie so ihre feineren Nuancen und das pulsierende Leben derselben infolge des Fehlens genügender diatonischer Zeichen nicht wiederzugeben vermögen, sondern wenn er sie rein in der Gestalt kennen lernt, wie sie in ungezügelter Kraft beim niederen Volke lehr. Wenn er sich dem Eindrucke dieser lebenden Volksmusik und all’ deren Umständen, welche die Vorbedingungen dieses Lebens bedeuten,
hingibt und die Wirkung dieser Eindrücke in seinen Werken widerspiegeln läßt, dann kann man von ihm sagen, er hat ein Stück Leben darin festgehalten.