„Ungarische Bauernmusik”, Musikblätter des Anbruch, II/11–12 (1920. június), 422–424.
Gyűjteményes kiadás: BÖI, 83–90.; Essays, 304–315.; BBI/4, 39–50.
Forrás: ZTI
Ungarische Bauernmusik*
Von Bela Bartók, Budapest
Wenn man über neuere ungarische Kunstmusik spricht, wird meistenteils der Einfluß der ungarischen, d. h. magyarischen Bauernmusik erwähnt, welche der ersteren gewisse Eigentümlichkeiten verliehen hat. Es wird vielleicht nicht des Interesses entbehren, wenn wir nun auch einiges über letztere sagen, namentlich aber in typischen Beispielen die besonderen Arten derselben vorführen.
Vor allem sei bemerkt, daß unsere Bauernmusik von den allgemein bekannten ungarischen „Nationalweisen” grundverschieden ist. Diese sind volkstümliche Kunstlieder von mehr oder minder bekannten, dem Herrenstande angehörenden Autoren. Sie haben zwar einen gewissen exotischen Reiz, wodurch sie sogar die Aufmerksamkeit eines Brahms oder Liszt usw. erwecken konnten; doch sie bergen
dabei auch viele gewöhnliche Wendungen, auch manches der westeuropäischen Musik unfreiwillig Entnommene. Jedenfalls wurden sie in ihrer Entstehung auch durch unsere Bauernmusik beeinflußt – daher ihr exotischer Zug; die Wechselbeziehungen zwischen ihnen und unserer Bauernmusik sind jedoch einstweilen noch nicht klar.
Die von westlichem, resp. städtischem Einflusse freie, ältere magyarische Bauernmusik ist ungleich wertvoller; sie bietet durchaus ungewohntes in vollendeter Gestaltung, weist nicht den geringsten Hauch gewöhnlicher Wendungen auf. Namentlich wirkt sie durch das vollkommene Fehlen jeder, auf die Tonika.-Dominanten-Verbindung hinweisende Melodieführung für das westeuropäische Ohr so ungemein
erfrischend. (Letzteres ist übrigens auch bei der übrigen osteuropäischen Bauernmusik der Fall.)
Auf den ersten Blick bietet das gesamte Material unserer Bauernmusik ein ziemlich buntes, schwer übersichtliches Bild: Es enthält Melodien von – sowohl dem Alter, als auch dem Ursprunge nach – verschiedenen Musiktypen. Doch schon nach einem kürzeren Studium ergeben sich – wie dies bereits im Programmbuch des ,,Historischen Konzertes am 12. Jänner 1918″ (Universal.-Ed.) dargelegt worden ist –
zwei Hauptkategorien, und zwar: Melodien älteren oder ganz alten Stils und Melodien neuen Stils. Der Hauptunterschied zwischen den beiden Kategorien, welcher schon bei flüchtiger Betrachtung festgestellt werden kann, ist folgender: Die neueren Melodien bewegen sich meistens im festen Marschrhythmus; ihr
Aufbau zeigt eine Form (AABA oder ABBA), die mehr oder weniger der kleinen Liedform nahe steht; die älteren Melodien werden meistens parlando-rubato vorgetragen und entbehren eines ähnlichen Aufbaus. Eine wissenschaftliche Charakteristik der beiden Arten wollen wir hier unterlassen; statt dessen verweisen wir auf das oben genannte Programmbuch, wo dies eingehend besprochen wurde.
Die älteren Melodien sind – unseres Wissens nach – spezifisch magyarisches Kulturprodukt; d. h. sie sind grundverschieden von den MelodieTypen der angrenzenden Völker; über ihren Ursprung oder eine Verwandtschaft mit irgend einer
Stilart (z. B. gregorianische Musik, Choralmelodien usw.) ist nichts nachzuweisen. Möglicherweise bergen sie, namentlich die an pentatonischen Wendungen reichen Melodien der Szekler in Siebenbürgen, gewisse Überreste einer asiatischen Musikkultur. Doch ist dies nur eine Hypothese; beweisen läßt sich in dieser Frage gar nichts, nachdem es uns an genügenden Volksmusik,Sammlungen der verwandten
Völker finno-ugrischer Rasse fehlt.
Die neueren Melodien sind zwar ebenfalls auf ungarischem Boden entstanden, doch scheint ihre „modernere” Form, von welcher wir bereits sprachen, für eine gewisse westeuropäische Beeinflussung einen Beweis zu liefern. Trotzdem enthalten sie so manche merkwürdige, vielleicht aus dem alten Stil herübergerettete, pentatonische Wendungen und, obzwar sich eine große Zahl derselben in ausgesprochenem Dur-System bewegt, trifft man unter ihnen in fast ebensogroßer Zahl Melodien, die
in der dorischen, mixolydischen und aeolischen Tonleiter stehen.
Betreffs ihrer Entstehung können wir nichts sicheres feststellen, doch scheinen sie in gewisser Beziehung zu den erwähnten „nationalen” Kunstweisen zu stehen. Recht merkwürdig ist das in die letzten 50-60 Jahre fallende rasche Emporblühen dieses Stils: ein Revolutionsprozeß, welcher die herkömmliche alte Singweise sozusagen gänzlich verdrängte. (Letztere wird heutzutage nur von Bauern höheren
Alters, nunmehr fast nur heimlich gepfügt.) Noch merkwürdiger ist es, daß diese Revolution sich nicht auf den magyarischen Boden lokalisierte; sie griff auch die Musikstilarten einiger Nachbarvölker, namentlich die der Slowaken und Ruthenen an. Bei diesen Völkern singen die jüngeren Personen, natürlich mit unterlegten Texten in ihrer eigenen Sprache, in der Mehrzahl nur diese neueren magyarischen
Bauernmelodien, die entweder ohne Änderung von ihnen übernommen wurden, oder aber bei der Übernahme gewisse, für das betreffende Volk recht charakteristische Veränderungen erfahren haben. Wir müssen hier darauf verzichten, ausführlich über diesen interessanten Vorgang zu sprechen; dies sei einer wissenschaftlichen Abbandlung vorbehalten.
Außer diesen zwei Kategorien, von denen jede für sich eine Einheit darstellt, gibt es noch eine große Zahl Melodien von der heterogensten Art, die mehr oder minder eine wahrscheinliche Durchsickerung westeuropäischer Musikkultur aufweisen. Diese Melodien sind von geringerem Interesse, jene ausgenommen, in welchen der Stempel Osteuropas ganz bestimmt erkennbar zu Tage tritt.
Das Interessanteste, Anregendste und Wertvollste bieten jedenfalls die Melodien „alten Stils”: ein Beweis dafür der Umstand, daß die rückständigen Musiker unseres Landes, für die nur die nationalen Kunstweisen als ungarische Volksmusik gelten, ihnen mit offener Feindseligkeit gegenüberstehen.
Einige Haupttypen dieses angefochtenen Materials sind als Proben in der Notenbeilage zu diesem Heft enthalten.
Die Melodien Nr. 20-25 zeigen eine Formgestaltung, auf die besonders hingewiesen werden muß: die zweite Hälfte der Melodien (3. und 4. Melodienzeile) ist ungefähr die Wiederholung der ersten Hälfte (1. und 2. Melodiezeile) um eine Quinte tiefer. Dieser Form, wenn auch nicht denselben Melodien, begegnet man im slowakischen und mährischen Material ziemlich häufig, so daß es sich vorläufig nicht entscheiden läßt, bei welchem Volke sie sich zuerst entfaltete.
Beispiele für ähnliche Formbildung sind ferner Nr. XX aus meinen Klavierstücken „Für Kinder” und Nr. 12 aus den Klavierstücken „Ungarische Bauernlieder”.
Sonstige Beispiele für ältere Melodien sind: Nr. XVI, XXXIV, vielleicht auch XLI aus „Für Kinder”, Nr. 1, 2, 3, 4, 6, 7,. 8, 11 aus „Ungarische Bauernlieder” und 1, 2, 3, 4, 5 Notenbeispiel im Programmbuche des „Historischen Konzertes”.
Beispiele für neuere Melodien sind alle übrigen Melodien im letzteren, ferner Nr. XIV, XV, XVIII, XIX, XXXIlI, XXXVI, XXXVII aus „Für Kinder”.
Zu der zuletzt erwähnten dritten Kategorie finden wir die Beispiele: Nr. VII, XI, XXVII, vielleicht XXVIII, XXXII aus „Für Kinder” und vielleicht N. 14 aus den „Ungarischen Bauernliedern”.
Die Melodien älterer Kategorie haben, wie aus den Beispielen ersichtlich, einen ziemlich einheitlichen, für manche Musiker vielleicht sogar allzu schablonenhaften Charakter, was jedoch bei der Bauernmusik einer einzigen Epoche eben nicht anders möglich ist. Man erkennt gerade an dieser Einheitlichkeit des Stiles die
Zusammengehörigkeit der Melodien einer Epoche. Abgesehen von der Vollkommenheit und der anregenden Frische der Melodienführung war uns namentlich das Vorfinden und Studium der parlando.-Deklamation in diesem Material für die Schaffung einer Deklamation in vokalen Werken von ungemein großer Wichtigkeit.
Wir hatten in der ungarischen Kunstmusik überhaupt keine Traditionen, auf denen wir weiter bauen gekonnt hätten. Die deklamatorischen Versuche in vokalen Werken unserer Vorgänger waren nichts anderes, als Nachahmungen westeuropäischer Schablonen, die sich mit dem Rhythmus der ungarischen Sprache schlecht vertrugen. Debussy konnte zu der Deklamation der alten französischen Musik zurückgreifen, um sich von der Wagnerschen Deklamation zu befreien. Wir haben außer diesen
parlando.-Bauernmelodien nichts, womit wir diese Frage hätten lösen können.